Scham zeigt uns, dass wir eine Norm nicht erfüllen
Vor einigen Tagen habe ich mich mit einem Freund getroffen, der aufgrund einer Erkrankung seinen Job aufgeben musste. Bei dem Treffen schien er mir sehr bemüht, ein gewisses Bild von Normalität zu vermitteln. Die Scham stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hatte inzwischen einen weniger qualifizierten Job angetreten, aber das war auf jeden Fall besser, als nichts – also arbeitslos zu sein.
Gefühle bei unfreiwilliger Arbeitslosigkeit
Natürlich ist der Verlust des regelmäßigen Arbeitseinkommens erstmal ein finanzielles Fiasko. Gefühle von Angst oder gar Panik bezüglich der finanziellen Absicherung der Zukunft sind hier gut nachvollziehbar. Im sozialen Kontext scheinen mir diese Gefühle aber nicht die vordringlichsten zu sein. Hier scheint Scham bedeutsamer zu sein.
Aus eigener Erfahrung kenne ich, dass die „Beichte“, arbeitslos zu sein, mit Scham besetzt ist. Plötzlich gehört man nicht mehr dazu, ist nicht mehr normal, ist mit einem Mangel behaftet. Anders sieht es vielleicht aus, wenn man selbst gekündigt hat. Aber auch da kenne ich, dass einem von außen die schnellstmögliche Wiederherstellung der Normalität angetragen wird.
Aus der Evolutionswissenschaft kommt der Ansatz, dass Scham dazu dient, den sozialen Zusammenhalt zu fördern. Scham zielt also darauf, dass soziale Normen und Werte, die den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern, eingehalten werden. In unserer Leistungsgesellschaft ist der Arbeitslose daher auch immer eine Mahnung, die an die Fragilität dieses Prinzips erinnert. Dass es im Leben um mehr geht als Leistung & Arbeit, darauf weist auch Heinrich Böll in der „Anekdote zur Senkung der Arbeitsmoral“ hin – immer wieder nett & lehrreich zu lesen!
Was tun gegen das Gefühl von Scham?
- Ressourcen aktivieren, die das Gegenteil bewirken. Also Stolz, Zuversicht, Mut, Hoffnung, Selbstgewissheit. Dabei ist es dienlich, sich wirklich auf eigene Eigenschaften & Fähigkeiten zu berufen. Plötzlich fanatischer Fußballfan oder begeisterter Nationalist zu werden, wäre hier weniger hilfreich.
- Aus der Pesso-Boyden-Therapie kenne ich den Ansatz, sich einen unterstützenden Anteil zu imaginieren. Wenn ich davon ausgehe, dass die Scham in einer mangelnden Unterstützung in der Kindheit fußt, kann ich mir vorstellen, wie es gewesen wäre, wenn ich als Kind jemanden an meiner Seite gehabt hätte, der mich unabhängig von meiner Leistung wertgeschätzt hätte. Ein/e idealer Vater/ideale Mutter, ein idealer großer Bruder/ideale große Schwester oder eine eine ähnliche Person.
- Bewusstsein, dass Scham nicht auf persönliche Defizite zielt, sondern dem sozialen Zusammenhalt dient.
- Reden! Beim Austausch mit anderen werden wir wahrscheinlich erleben, dass wir gar nicht das Alien sind, für das wir uns selbst halten, sondern dass andere in ähnlichen Situationen die gleichen Gefühle entwickelt haben.
Also: sich nicht schämen, dass man sich schämt! Im Grunde dient es unserem Bindungssystem, da wir ja Teil einer Gruppe sein wollen!
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